Die beiden Männer schnaufen tief durch, als sie wieder einmal nach dem derzeit wichtigsten Bewohner Virgens gefragt werden. Norbert Lang und Johann Oberwalder spüren, welche Bürde ihnen auferlegt wurde. „Wir haben das ja noch nie gemacht, aber das schaffen wir schon“, gibt sich Lang, Obmann der Virger Fraktion Mitteldorf, optimistisch. In sechs Tagen, am ersten Samstag nach Ostern, muss das Tier seiner Bestimmung folgen und nach jahrhundertealtem Ritual als „Virgentaler Opferwidder“ in das nahe Obermauern gebracht werden, wo er in der Wallfahrtskirche dreimal um den Altar geführt wird.
Nur ein symbolisches Opfer
Und keine Sorge, wirklich „geopfert“ wird das schöne Tier nicht. Früher kam es der Kirche zugute, inzwischen wird es verlost und der Gewinner kann es behalten oder verkaufen.
Jedes Jahr wird eine Fraktion aus den Gemeinden Virgen und Prägraten ausgewählt, die sich vom Herbst weg bis zur Prozession um den wolligen Vierbeiner kümmert. Oberwalder, in dessen Stall das Tier dieses Mal Unterschlupf gefunden hat, packt den weißen, gehörnten, dreijährigen Steinschafwidder bei den Hörnern. Sein Nachbar Lang bürstet das Fell.
Wer sich in der Wallfahrtskirche Maria Schnee in Obermauern ein Votivbild des Brauches, der vor zwei Jahren in das Immaterielle Kulturerbe der Unesco aufgenommen wurde, anschaut und die Geschichte dazu kennt, der versteht die aufopfernde Fürsorge. Die Inschrift „1635 ex voto“ bezieht sich auf die Zeit, als Anfang des 17. Jahrhunderts in der Region eine Pest-Epidemie tobte. Jeder Dritte soll ihr zum Opfer gefallen sein. In der Virgentaler Sage heißt es, dass während einer Bittprozession, bei der die Menschen um ein Ende der Pest flehten, plötzlich ein weißer Widder dem Sensenmann gegenübertrat und diesen bekämpfte. Der Brauch des Opferwidders geht auf das Jahr 1695 zurück, sagen Volkskundler. Über zwei Jahrhunderte lang gingen die Einwohner der Gemeinden ins 40 Kilometer entfernte Lavant, seit 1920 trifft man sich im nahen Obermauern.
Während in anderen Tälern ähnliche Brauchtümer verschwinden, hält sich dieser bis heute. Manche Einwohner opfern viel Zeit, damit die Tradition nicht stirbt. Warum das so ist, interessierte die Virgerin Ruth Grimm. 2016 verfasste sie ihre Bachelorarbeit für das Studium der Kultur- und Sozialanthropologie an der Uni Wien über den Opferwidder und war bei den Vorbereitungen dabei. Es sei eine ehrenvolle und zugleich arbeitsintensive Aufgabe. Sogar die Auswahlkriterien für den Widder sind streng: „Ruft man sich die Szene aus dem Votivbild in Erinnerung, so sollte er einen imposanten Kopf und schön geschwungene, mächtige Hörner besitzen. Außerdem soll die Wolle ein Jahr lang nicht geschoren werden, damit ihn ein langes, dichtes Fließ ziert“, erklärt sie.
Stärkung der Gemeinschaft
Das Tier steht im Mittelpunkt, doch es sind die Vorbereitungen vieler Einzelpersonen, die das Fundament des Ganzen bilden. Der „Lauantwidder“, wie er umgangssprachlich genannt wird, hat laut Grimm einen identitätsstiftenden Charakter. „Egal, ob für Einzelpersonen der religiöse Hintergrund oder das gesellschaftliche Beisammensein wichtiger ist, im Vordergrund steht die Gemeinschaft, welche durch die Zusammenarbeit an diesem Brauch gestärkt wird“, erfuhr die junge Virgerin, für die der Opferwidder eine neue Aufgabe erfüllt: „Während der gemeinschaftliche Prozessionszug in der Vergangenheit dabei half, traumatische Erfahrungen von Seuchen zu bewältigen, trägt er heute zur Stärkung des lokalen Gemeinschaftsgefühls bei.“
Die Bittprozessionen aus Virgen und Prägraten sowie die anschließende Messe werden der stimmungsvolle Höhepunkt, den die Halter des braven Widders herbeisehnen. „Der ist lammfromm“, sagt Norbert Lang über den pflegeleichten Gast.
So unkompliziert lief es nicht immer. „Vor ein paar Jahren hat ein Halter drei Widder gebraucht, weil zwei gestorben sind. Das war natürlich bitter“, erinnert sich der Obmann der Fraktion Mitteldorf. Natürlich könne in der letzten Woche noch etwas passieren, aber er sei zuversichtlich, dass „wir ihn ganz gut auf Vordermann bringen“. Die Gemeinschaft wird es danken. Obwohl es oft so scheint, dass sich immer weniger Menschen umeinander scheren, schafft es der Opferwidder, die Menschen zusammenzubringen. (Matthias Christler)
Imposanter Kopf und schön geschwungene, mächtige Hörner soll der Opferwidder haben.
Johann Oberwalder kümmert sich in diesem Jahr um das Tier.
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